Ausführung eines JVA Insassen – Überlegungen eines Vollzugs-Helfers
Der Vortag der Ausführung
Mein Insasse wird zum zweiten Mal ausgeführt. Ich kenne nur die Adresse der Einrichtung, in der Gefangene mit Angehörigen oder Freund*innen außerhalb der JVA zusammenkommen können. Da mein Insasse keine Familie hat, möchte er mich dort treffen. Mache ich gerne, bin ja sein Vollzugshelfer! Mir macht aber Sorge, wie ich die vier gemeinsamen Stunden gestalten soll. Auf jeden Fall braucht es Café! Essen ist auch immer gut: Obst, Nüsse, ein belegtes Brötchen mit Käse und saftigem Schinken – mein Insasse signalisierte bisher keine religiösen Vorbehalte. Vier Stunden sind lange. Ich lege noch Brettspiele und Spielkarten zurecht, die Zeit soll ja in guter Erinnerung bleiben.
Der Tag der Ausführung
Ich bin schon eine halbe Stunde vor der angegebenen Zeit am Treffpunkt, einem kleinen Gemeindesaal, klamm-feucht, die Heizung bemüht sich noch. Zu meiner Erleichterung ist die Gefängnisseelsorge auch anwesend, wird die ganze Zeit dabei sein und ganz selbstverständlich die Rolle des Gastgebers übernehmen.
Zwei Beamt*innen führen meinen Insassen herein, mit kurzen Ketten an Fußgelenken und Händen, die Handschellen eng am Körper fixiert. So ist das Gleichgewicht nicht gut zu halten, die Beamt*innen müssen beim Hinsetzen helfen. Nach Abnehmen der Handschellen eine kurze Begrüßung aller mit allen – die Fußketten bleiben. Ich bin verlegen: In der JVA bewegt er sich aufrecht und ungehindert, jetzt sitzt er mir gegenüber in Ketten. Für Raucherpausen im Innenhof werden die Handschellen wieder angelegt, dann die Fußfesseln abgenommen. Die Beamt*innen sind dabei freundlich, korrekt und ohne einen Anflug von Ungeduld oder Überlegenheit.
Small-Talk überbrückt die anfängliche Verlegenheit. Unverfängliche Themen zirkulieren im Dreiergespräch. Die Beamt*innen sitzen im Hintergrund, lassen sich gelegentlich in das Gespräch einbeziehen, suchen aber keinen Kontakt. Den Insassen adressieren sie korrekt und respektvoll in angenehmen professioneller Vertrautheit. Unsere Interaktionen beobachten sie diskret aber aufmerksam aus der Tiefe des Raums. Brötchen, Obst, der Döner zur Mittagszeit werden genauer inspiziert. Mitgebrachtes, das übergeben werden soll, muss von zuständigen Sozialarbeiter*innen gestattet sein, z.B. eine Packung Zigaretten – keine zwei! Auch Kondome müssen draußen bleiben.
Während einer Raucherpause im Innenhof, erzählt mir der Seelsorger aus dem JVA-Alltag. Zwei Aussagen bleiben hängen: Insassen, die in Kindheit und Jugend keine liebevollen oder verlässlichen Beziehungen erlebt haben, bewerten freundliches Verhalten der Beamten oft als Freundschafts-Angebot. Wird eine Bitte ausgeschlagen, dann kommt das einer Zurückweisung gleich, einem Verrat an der empfundenen Verbundenheit. Die Reaktionen sind dann oft überschießend. Die zweite Aussage betrifft die Reaktionen auf den JVA-Alltags-Stress. Allen Bediensteten sei bewusst, dass die vielen Pannen, Ungereimtheiten und nicht eingelöste Zusagen die Insassen erheblich belasten. Reaktionen werden daher erwartet und akzeptiert, wenn angemessen. Ausgesprochen unangemessen erscheinen Androhungen mit juristischem Vorgehen oder die Ankündigung von Selbstverletzungen. Dass passive Insassen, die alles über sich ergehen lassen, leicht übersehen werden, ist den Bediensteten ebenfalls klar.
Die vier Stunden sind erstaunlich schnell vorbei, der Aufbruch fast hastig: Anlegen der Handfesseln, Aufrichten des Insassen, schwankender Gang in Fußfesseln, die Beamten müssen das Gleichgewicht sichern. In kurzen unsicheren Schritten trippelt mein Insasse zur draußen wartenden Taxe. Flapsige Bemerkungen suchen die Peinlichkeit zu entschärfen. Es dauert noch unendliche Minuten, bis der kräftige aber hilflose 1,80-Meter-Mann wie ein verschnürter Teppich im Fahrzeug verstaut ist. Ende der zweiten Ausführung. Gemeinsames Aufräumen, Dank an und Abschied vom Seelsorger, ich bin erleichtert und betroffen.
Der Tag nach der Ausführung
Der Vortag beschäftigt mich. Was ist zwischen den Beteiligten abgelaufen? Ich suche Antworten auf dem Systembrett. Dort finden sich ein: mein Insasse, zwei JVA Beamte, ein Seelsorger, die Institution JVA, die Organisation Mann-O-Meter, ein Vollzugshelfer – ich, eine Privatperson- nochmal ich und ein/e Unbekannte/r. Die repräsentativen Figuren beziehen Stellung. Nach einigem Hin und Her ergibt sich folgendes Bild:
Nr. 1: Als Vollzugshelfer stehe ich an der Seite (!) des Inhaftierten, mit Abstand anteilnehmend, ohne Verpflichtung oder Verantwortung für ihn, seinen Haftverlauf oder die Zeit danach – dennoch erkennbar ihm zugewandt.
Nr. 2: Als Privatperson stehe ich ihm nicht ganz so nahe, bin aber durchaus nicht unbeteiligt.
Nr. 3: Weder als Vollzugs-Helfer noch als Privatperson finde ich meinen Insassen anziehend! Einige der JVA-Beamt*innen dagegen sehr wohl! Die müsste ich bei einer späteren Aufstellung in Position bringen.
Zwei Wochen nach der Ausführung
Der Besuch in der JVA läuft in eingespielter Routine: Klagen über Unregelmäßigkeiten, Vermutungen über Bedienstete, Beschwichtigung, Angebote anderer Betrachtungsweisen, Werbung um Nachsicht, Small-Talk. Ebenfalls Beobachtungen, Ergänzungen, Bewertung der Ausführung und wiederholte Bestätigungen, wie gut die zweite Ausführung gelaufen sei. Mein Insasse möchte bei der nächsten Ausführung wieder in die gleiche Einrichtung – also hat es ihm doch besser gefallen als nur gut. Im Frühjahr wird die dritte Ausführung sein. Wenn ohne Ketten aber in Begleitung von zwei Beamten, möchte mein Insasse zu Mann-O-Meter! Wie er wohl auf Mann-O-Meter kommt?
Wolf Wagner
Vollzugshelfer Mann-O-Meter